"Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann nicht sündigen?"

Im Sommer 2007 hatte der pasteur von Vallon die Ehre, an der Verwirklichung einer großartigen Idee mitzuwirken, die seinem Freund und Kollegen Matthias Weber in Schopfheim gekommen war. Er hatte in der Gemeinde insgesamt über sechzig Fragen sammeln können, nachdem er dazu eingeladen hatte, diejenige Frage zu formulieren, "die Sie immer schon mal an die Kirche stellen wollten". Das führte zu einer Predigtreihe, in deren Rahmen im Juni 2007 der Pfarrer von Vallon, ehemals Vikar in Schopfheim, auf die Frage antworten durfte : "Wenn Gott Sünden vergibt - warum soll man dann nicht sündigen?"

Hier die Predigt für Sonntag, den 24. Juni 2007, Stadtkirche Schopfheim

Liebe Gemeinde,

           es ist eine große Freude für mich, wieder einmal in Schopfheim zu sein. Hier habe ich vor 36 Jahren die ersten, zum Teil recht wackeligen Schritte in den kirchlichen Dienst getan. Ich bin sehr dankbar dafür, daß ich daran mitwirken darf, eine gute Idee zu verwirklichen, die Pfarrer Matthias Weber gehabt hat. Unter der Überschrift « Frag mal die Kirche » hat er von Ihnen über sechzig Fragen formuliert bekommen, von denen nun im Laufe der kommenden Monate einige im Rahmen dieser Predigtreihe « Frag mal die Kirche » beantwortet werden sollen. Und mich hat es mit einer Frage getroffen, die mich in der Tat seit meiner Schopfheimer Zeit begleitet hat. Ich war hier ja als « Vikar », also als « Pfarrer auf Probe » (eigentlich eher: Pfarrer-Lehrling!) - und daß ich dann später doch noch ein richtiger Pfarrer geworden bin, das habe ich einzig den beiden Chefs zu verdanken, die mich damals begleitet haben: Dem Chef ganz oben, und dem Dekan Martin Kaufmann, der mir immer wieder neu sein Vertrauen geschenkt hat, trotz aller Dummheiten und Fehler, die ich damals gemacht habe. Ohne die Erfahrung der VERGEBUNG wäre ich im kirchlichen Dienst wohl kaum je über die Probezeit hinaus gekommen...
Und damit sind wir allerdings auch schon bei unserem heutigen Thema. Jemand aus Schopfheim, vielleicht sogar jemand hier unter uns, hat die Frage gestellt:
Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann keine Sünden begehen ?
Ich muß Ihnen zugeben: Als ich die Frage zum ersten Mal vor mir hatte, auf dem Blatt mit den vielen anderen Fragen, da hab ich zuerst einmal schallend gelacht. Was an dieser Frage so komisch ist? Nun, man kann an ihr ablesen, wie die Zeiten sich geändert haben. Leute in meinem vorgerückten Alter würden sagen: « zu unserer Zeit » hätte es diese Frage nicht gegeben. Füher hätte man höchstens genau anders herum gefragt. Also beispielsweise:
« Wenn Gott nicht will, daß wir Sünden begehen, warum vergibt er sie dann? »

Das erinnert mich an ein Gepräch, das ich vor vielen (über dreißig!) Jahren einmal hier in Schopfheim hatte. Eine Frau, die regelmäßig in den Gottesdienst kam (und nun sicher von der oberen Etage aus zuhört), hatte sich darüber gewundert, daß in meinen Predigten das Wort « Sünde » nie vorkam. Noch lange ist mir dieses sehr eingehende Gespräch über die Sünde nachgegangen. Es bewegt mich im Grunde bis heute. Wir haben nämlich miteinander überlegt, was denn in der Bibel « Sünde » genannt wird.  Das Wort ist ja heute durch oberflächlichen Gebrauch derart « entwertet », daß wir es kaum mehr im ursprünglichen Sinne verstehen. Wenn in der Fernsehwerbung eine Praline als Versuchung bezeichnet wird, oder wenn es eine Sünde ist, daß ich meinen Sonntagnachmittagskuchen mit einer ordentlichen Portion Schlagsahne verziere, dann lasse ich das Wort « Sünde » lieber ganz auf sich beruhen und spreche mit völlig anderen Worten von dem, was die Bibel Sünde nennt.

Natürlich denken wir beim Stichwort « Sünde » – in Erinnerung an unseren Konfirmandenunterricht – zuvorderst an die zehn Gebote und deren Übertretung. Aber: wenn wir die dann nennen, dann ist vor allem von Stehlen, Totschlag und Betrug, von Neid und Ehebruch die Rede. Dabei fangen die zehn Gebote aber ganz anders an! Dort steht am Anfang die Frage, ob Gott in meinem Leben wirklich Gott ist, also wirklich den Platz hat, der ihm gebührt. Anders herum gesagt: Sünde heißt in der Bibel alles das, was mich von Gott trennt. Und das hat zunächst überhaupt nichts mit moralischen Verfehlungen zu tun! Wenn mein Herz voller Neid und Enttäuschung, voller bitterer Gedanken und Gefühle gegen das Schicksal und meine Mitmenschen ist, dann trennt mich das von Gott – und zugleich auch von meinen Mitmenschen. Dann IST das Sünde - und zwar möglicherweise OHNE, daß ich das geringste Böse GETAN habe.  Darum beginnen die zehn Gebote mit drei Geboten, die meiner Meinung nach die anderen alle schon in sich enthalten (und dann im Laufe der Zeit fast unausweichlich zur Übertretung aller anderen Gebote führen):
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst Dir kein Bildnis, keine festgefügte Vorstellung von Gott machen.
Du sollst den Namen Gottes nicht mißbrauchen.
Das sind drei Gebote, die reden von Sünde – aber mit keinem Wort von Moral, also von einer unguten, bösen Tat. Sie reden von Sünde im biblischen Sinn. Und wenn es stimmt, was Luther einmal gesagt hat: « Das, woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott », dann kann ich ja tatsächlich mit dem besten Gewissen von der Welt und mit guten, sogar höchst ehrenhaften Gründen im bliblischen Sinne sündigen, das heisst mich vom lebendigen Gott abkehren! Zum Beispiel: Ich kann mein ganzes Leben und Sinnen ausrichten auf meine Familie. So, dass mein Herz an nichts anderem sonst hängt. So, dass die Familie mein Ein und Alles ist. (Es genügt übrigens, die Zeitung zu lesen, um zu sehen, dass das in der Tat auch ganz böse enden kann. Ich denke an einen besonders tragischen Fall, der sich kürzlich bei uns zugetragen hat. Da hat eine Frau ihren Mann verlassen, und der, total aus dem Gleichgewicht geworfen, hat in seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit seinen ältesten Sohn getötet, und die beiden anderen und sich selber zu töten versucht – und nun muß er leben mit dieser grausigen Schuld, die nur daraus gewachsen ist, dass seine Familie sein « Ein und Alles » war, sein ganzer Lebenssinn und -inhalt.  – Luther hätte hier gesagt: sein Gott!).
Sie sehen, wie die Frage nach der Sünde im biblischen Sinn uns allerdings bis in tief erschütternde Aktualitäten hinein führen kann!
Und wir sehen so unvermittelt die Frage, unter der unser heutiger Gottesdienst steht, in einem ganz neuen Licht:

Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann keine Sünden begehen ?
Es ist wahr: Gott, wie Jesus Christus ihn uns offenbart hat, ist der Gott der Liebe und der Vergebung. Und es ist auch wahr, dass Gott alle, alle Sünde vergibt. Das Mädchen im Religionsunterricht hatte völlig recht. Der Pfarrer hatte gefragt: Was müssen wir tun, damit Gott unsere Sünde vergibt? Und das Mädchen hatte ganz einfach gesagt: « Wir müssen sündigen, Herr Pfarrer. »
Nur sündigen, sonst nichts! Gott vergibt umsonst! Der Gelähmte, der am Anfang vom Markus-Evangelium zu Jesus gebracht wird, der hat ja auch nichts getan. Der konnte gar nichts tun: Zu Jesus hingehen konnte er nicht, er war ja gelähmt. Und gesagt hat er auch nichts. Seine Freunde sind für ihn aktiv geworden. Die haben sich übrigens ordentlich abgerackert um seinetwillen. Nichts war ihnen zu viel, um ihn zu Jesus zu bringen. Aufs Dach sind sie mit ihm, und haben sogar das Dach demoliert. So wichtig war es ihnen, daß ihr Freund ganz nah zu Jesus kam! Und wie Jesus ihren so großen Glauben sah, sagt er zu dem Gelähmten: « Deine Sünden sind dir vergeben! »
Natürlich kann man von da aus zur Meinung kommen: Dann ist Sünde ja überhaupt kein Thema mehr. Dann kannst Du leben wie du willst, dann kannst du dir nehmen, was du magst, dann kannst du über alle Stränge schlagen, am Ende wird der Ewige dir doch vergeben. So wie es der alte Heinrich Heine kurz vor seinem Tod gesagt haben soll: « Der Ewige wird mir vergeben. Das ist schließlich sein Geschäft... »
Es kann aber auch passieren, dass ich, weil und wenn ich wirklich in der Tiefe begriffen habe, dass Gott Liebe ist – total erschüttert, zu Tode erschrocken bin darüber, wie sehr ich mit meinem eigenen Leben so entsetzlich weit weg bin von allem, was Gottes Wirklichkeit ausmacht:
- Gott geht jedem einzelnen Menschenkind nach, weil er jedes einzelne liebt. Und ich kreise immer nur um mich selber.
- Gott sieht mir nach, was ich verkehrt gemacht habe und nimmt mich trotzdem in Gnaden an. Und ich gucke seit Jahren den Mann, der mich seinerzeit so bös beleidigt hat, nicht mehr an. Er denkt ja auch nicht dran, sich bei mir zu entschuldigen...

Seit ich – dank der Bibel - entdeckt habe, wie Gottes Liebe in der Welt erfahrbar wird, möchte ich, ehrlich gesagt, daran auch ganz persönlich teilhaben. Ich möchte also nicht nur nicht sündigen, sondern ganz im Gegenteil tatkräftig und positiv daran mitwirken, dass das Gegenteil von Sünde (also von der Trennung von Gott), nämlich die Gegenwart Gottes in der Wirklichkeit der Liebe erfahrbar wird für die Menschen, denen ich begegne. Dass wir so in unserem ganz normalen, menschlichen Miteinander etwas von dem - gewissermassen im Voraus - verwirklichen, was uns nach biblischer Verheißung in Gottes Zukunft, in Gottes neuer Schöpfung erwartet: das nämlich, was die Bibel « Heil » oder « wahres, ewiges Leben » nennt.

Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann keine Sünden begehen ?
Es kann gut sein, daß für manche unter uns diese Frage nun einen ganz neuen Klang bekommen hat. Es geht ja gar nicht darum, dass Sünde belanglos wird, weil Gott sie am Ende ja eh vergibt. Vielmehr vergibt uns Gott das, was gestern war, was hinter uns liegt (und uns ja manchmal auch ganz elend belasten kann!), damit wir nicht auf dem Versagen und den Vergehen von gestern und vorgestern kleben bleiben. Schon solches Verhaftetbleiben an uralte, unvergebene Schuld kann uns ja auch wieder von Gottes Liebe und von unseren Mitmenschen trennen!
Und dann kommt noch etwas ganz anderes hinzu. Wenn ich mich und mein Leben und mein Unterwegssein in der Welt kritisch beobachte, dann muss ich festhalten, daß es leider überhaupt nicht menschenmöglich ist, wirklich ohne Sünde zu bleiben. Ich werde mich zuzeiten lieblos verhalten – vielleicht auch nur lieblos wirken, möglicherweise lieblos scheinen (und das machmal sogar aus Liebe, um der Liebe willen!). Das trennt, und das kann bitter weh tun! Das kann in grausame Zweifel und grosse Gewissenkonflikte führen. Lassen Sie es mich mit einem ganz berühmten Beispiel sagen: Als im Dritten Reich die Leute des Widerstandes zur Einsicht gekommen waren, dass man alles versuchen müsse, Hitler zu töten, um weiteres, namenloses Leid zu vermeiden, da meldeten sich vor allem Christen zu Wort und erhoben Einspruch. Mord ist und bleibt Sünde, auch wenn er aus noch so ehrenwerten Gründen begangen wird. Und Sünde ist total gegen Gottes Willen. Und aus Sünde kann nichts Gutes kommen. Es war damals Dietrich Bonhoeffer, der sich auf unvergessliche Weise zu Wort gemeldet hat. Er machte deutlich, daß wir – gerade als Christen – zuzeiten dazu aufgerufen sein können, im klaren Wissen um die Überschreitung des Gebots Sünde auf uns zu nehmen – aus unserer christlichen Verantwortung heraus, um weitere, noch grössere Sünde zu vermeiden.
Anders gesagt: Das Ideal darf nicht heissen: Tu möglichst gar nichts, dann wirst du auch keine Sünde tun. Damit, dass du skrupelhaft immer nur auf deine eigenen Finger (und in dein Herz) schaust, um nur ja keine Sünde zu begehen, ist überhaupt nichts gewonnen. Zuzeiten wird vielleicht sogar alles darauf ankommen, dass du, wie Luther einmal gesagt hat, « tapfer sündigst » - um mit deinem Handeln dem zu entsprechen, was Gott in unserer Welt in Gang bringen will! Und du kannst ganz sicher sein: Auch und gerade solche Sünde wird Gott in Liebe vergeben!

Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann keine Sünden begehen ?
Sie merken sicher, liebe Freunde, was diese Frage alles mit uns anstellen kann. Und nun kommt noch ein anderer Aspekt hinzu, der mir auf tief eindrückliche Weise in einer Ostergeschichte begegnet ist. Am Schluß des Johannesevangeliums wird uns erzählt, Wie Jesus den Jüngern erschienen ist. Es war nach einer Nacht erfolglosen Fischfangs. Der Auferstandene lädt die Jünger zum Mahl – zu Brot und Fisch, zum Mahl des Herrn. Da haben wir teil an der Versöhnung, die am Kreuz Wirklichkeit geworden ist. Und nach dem Mahl, nachdem also wirklich alle Vergebung miteinander geteilt und jedem einzeln zugeeignet ist, fragt Jesus den Petrus drei Mal: « Hast du mich lieb? » Und drei Mal antwortet Petrus « Ja, Herr, du weisst, dass ich dich lieb habe ». Ohne dass das mit einem einzigen Wort laut würde, steht der dreimalige Verrat Jesu durch Petrus in der Nacht vor Jesu Tod im Raum. Es ist alles vergeben. Kein Wort des Vorwurfs. Kein Tadel. Keine alte Geschichte wird aufgewärmt.  – Aber die dreimalige Frage rührt an einen tief schmerzenden Fleck im Herzen des Petrus. Alles ist vergeben – aber das heisst nicht einfach « Schwamm drüber ». Nein. Da bleibt eine Spur! Und um die zu neuem Segen umzuschmieden, erteilt Jesus dem Petrus einen unerhörten Auftrag. Er sagt – auch dreimal - « weide meine Lämmer! ». Das gilt nicht nur dem Petrus! Die Sünde, selbst wenn sie vergeben ist, hinterlässt eine Spur in deinem Herzen. Auch meine und deine Sünde ist, selbst wenn sie voll vergeben ist, nicht einfach weggeblasen. Es bleibt eine Spur in unserem Herzen. Und diese Spur hat ihren heilsamen Sinn. Sie führt uns zur Tat! Wir müssen nicht auf dem Versagen von gestern sitzen bleiben. Wir werden dazu befreit, den Willen dessen zu tun, der uns vergeben hat. Wir werden in eine unerhörte – und unerhört schöne – neue Aufgabe gestellt. Wir dürfen uns denen zuwenden, die ganz zu unserem Herrn gehören. Und sie in seinem Namen lieb haben. Wir dürfen und sollen sie begleiten und Verantwortung für sie übernehmen. Sie « weiden », wie ein Hirte seine Schafe weidet...

Wenn Gott Sünden vergibt, warum soll man dann keine Sünden begehen ?
Ihr habts gemerkt, liebe Freunde, diese Frage kann uns ganz schön in Atem halten. Sie wird hoffentlich manche unter uns weiter begleiten – nicht nur die Person, die sie gestellt hat. Ich möchte unser gemeinsames Nachdenken über diese Frage heute zusammenfassen in einer jüdischen Geschichte, die mir großen Eindruck gemacht hat:
In einem Vorort von Lublin lebte ein Mann, den alle seine Glaubensgenossen dafür hassten, dass er ein Denunziant war. Er informierte die Steuerfahnder des örtlichen Gutsbesitzers über die versteckten Guthaben der jüdischen Bewohner. Und das führte zu deren Verarmung.
Zahlreiche Frommen appellierten an den Seher von Lublin, den großen chassidischen Rebben, Gottes Zorn auf diesen Mann zu ziehen. Reb Jaakow Jizchak aber rief aus: « Was für ein Gerechter! Er erhellt den Himmel! Bringt ihn zu mir! » Die erschütterten Chassidim überbrachten dem Denunzianten die Nachricht des Rebbe, und der akzeptierte die Einladung aus Neugier. Er wollte herausfinden, wer ausgerechnet ihn als einen Gerechten bezeichnete!
Reb Jaakow Jizchak empfing den Mann sehr herzlich und sagte zu ihm: « Es wurden schlimme Anschuldigungen gegen dich erhoben. Ich aber sah an dem Tag, dass dein Licht den Himmel erleuchtete. Sag mir, welche gute Tat hast du an diesem Tag vollbracht, dass du so viel Heiligkeit verdienst? » Der Mann erklärte, dass er einige Tage zuvor mit seinem Sohn die Berit Mila (den Bund der Beschneidung) gefeiert hatte.
Reb Jaakow Jizchak fuhr fort: « Ich habe dich in der Gegenwart unseres Ahnen Abraham und des Propheten Elijahu gesehen, die zum Anlass dieser großen Mizwa (Wohltat) zu dir gekommen sind. »
Wissend, ein so hohes Maß an Heiligkeit erreicht zu haben, denunzierte der Mann nie wieder einen einzigen Glaubensgenossen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.