Ökumenische Feier zum 25.April 2015

Zur Eröffnung der "Caverne" konnten wir eine ökumenische Veranstaltung im Temple von Vallon organisieren, in deren Verlauf ich mir erlaubt habe, eine "spirituelle" Deutung der Höhlenmalereien aus der Aurignac-Epoche vorzustellen:

Bevor Ihr die eigentliche Replik der Bilderhöhle besucht, könnt Ihr die « Galerie de l’Aurignacien » anschauen, deren Besuch mit einem Kurzfilm beginnt. Der Film zeigt zwei Aurignac-Jäger, die einen Bison jagen wollen. Während sie sich anschleichen, fallen zwei riesige Höhlenlöwen das Tier an. Der erste reißt den Bison – und der zweite – verschlingt die Zuschauer. Da werden sämtliche Adrenalinreserven mobilisiert ! An diesen Film dachte ich kürzlich, als ich in Chambéry an einer früheren Fabrikmauer entlangfuhr, die von den « Höhlenmalern » der Gegenwart mit Grafiti besprüht wurden. Wer diese Mauer sieht, wird vor allem von der Agressivität der dortigen Bilder überrascht sein. In technischer Meisterschaft - machen diese Spraybilder Angst ! Leider genauso wie der Film, der in der « Galerie de l’Aurignacien » gezeigt wird. Und allerdings im totalen Gegensatz zu dem, was die Maler der Steinzeit in der Bilderhöhle vom Pont d’Arc hinterlassen haben.

Ich erlaube mir, meine Sicht des Höhepunktes dieses Meisterwerkes von vor mindestens 36000 Jahren zu zeigen: Es wird das Fresko der Löwen genannt und befindet sich im hintersten, tiefsten Saal der Originalhöhle. Die Fremdenführer pflegen von einer Jagdszene zu reden. Ich behaupte hingegen, daß es hier um das genaue Gegenteil von Jagd geht ! Freilich gehörten die Schöpfer dieses Kunstwerks zu einem Volk von Jägern. Sie lebten in einer unerhört gefährlichen Umwelt. Permanent mußte man auf der Hut sein, um nicht zwischen die Krallen eines der gewaltigen Tiere zu geraten, die dem Menschen damals den Lebensraum streitig machten. Aufmerksame Betrachtung läßt aber wahrnehmen, daß hier keineswegs Gewalt und Agression oder die Herrschaft des Stärkeren zur Darstellung gebracht sind. In der Tat kommen in dieser Malerei Tiere gemeinsam vor, die in der Natur so nicht zusammenleben können. Das Mammutbaby, das links einen Abhang hochklettert, wäre für die Löwen rechts (in der insgesamt etwa 12m breiten und über zwei Meter hohen Komposition), die in seiner Richtung unterwegs sind, eine leichte Beute. Und das Wildpferd unten links wäre gut beraten, sich sofort in die Felsspalte zurückzuziehen, aus der es heraus zu treten scheint… Aber : Kein einziger dieser Löwen, dessen Pranken sichtbar sind, zeigt seine Krallen (lebensgefährliche Waffen!). An keinem der Löwenköpfe (es sind mindestens zwölf allein auf diesem Bildfeld) ist auch nur ein einziger Fangzahn zu sehen (während diese Zähne für unsere heutigen Spraykünstler sehr wichtig sind – und die Ethnologen sagen, daß sie Jahrtausende später zum Schmuck der Häuptlinge dienten…). Hier, in den Felsmalereien, gibt es keine Fangzähne – obwohl den Steinzeitjägern kaum entgangen sein dürfte, daß und wie der Löwe, wenn er jagt, seine Lefzen hochzieht und die Fangzähne entblößt. Wenn nun aber die Fangzähne nicht im Löwenmaul sichtbar werden, dann heißt das, daß nicht gejagt wird. Und wir haben ein Bild einer Welt des Friedens vor uns, auf die wir nur hoffen können.

Könnte es nicht sein, daß die Steinzeitmaler die Absicht hatten, ein friedliches Zusammenleben zu bezeugen, das Paläontologen erst kürzlich entdeckt haben : In Fundstätten, die eindeutig von Neandertalern bewohnt waren, wurden Steinwerkzeuge gefunden, die in der von den Aurignacmenschen (vor rund 40 000 Jahren) mitgebrachten neuen Technik bearbeitet waren !

Das allerdings erinnert mich an eine Friedensvision, die wir beim Propheten Jesaja (Jes 11) finden. Es ist die Vision eines Friedens, der menschliches Vorstellungsvermögen schier übersteigt : Ein Kind, das am Loch der Otter spielt und nicht gebissen wird, ein kleiner Junge, der um ein Vielfaches größere Tiere führt, ein Löwe, der Stroh frißt wie das Rind…

Nun spricht diese Friedensvision im Alten Testament nicht einfach von irgendeinem unerreichbaren Wolkenkuckucksheim. Ich bin überzeugt, daß Jesaja eine höchst reale Friedenswirklichkeit anspricht, die menschenmöglich ist und aktiv erhofft werden soll. Und in genau derselben Weise geht es beim Fresko der Löwen und der Bisons in der Höhle vom Pont d’Arc letztlich – um Menschen.

Die Maler dieser Bilderhöhle haben mit unerhörter Geduld und Aufmerksamkeit diese Tiere beobachtet, um sie in solcher Perfektion wiedergeben zu können. Aber es ging ihnen letztlich nicht um die Tiere – sondern um Menschen. Nun kann man (nicht nur in der Bilderhöhle vom Pont d’Arc, sondern auch bei Funden aus der Schwäbischen Alb und sogar aus Österreich) nachweisen, daß es damals ganz offensichtlich ein Tabu gab, das menschliche Antlitz detailliert wiederzugeben, selbst in Szenen, die das eigentlich erforderten. Natürlich kann man ein Rhinozerospaar beim Hochzeitstanz oder ein Löwenmädchen, das genüsslich seine Wange an der ihres Beschützers reibt, darstellen – und jedes Menschenkind, das hinschaut, erkennt, was gemeint ist...

Für mich steht hier außer Frage, daß die Steinzeitmaler nicht die Zärtlichkeit unter Tieren darstellen wollten – sondern Zärtlichkeit. Punkt.

Wenn ich diese Interpretation in die Debatte einbringe, dann nicht nur, weil sie bisher geradezu planmäßig unterdrückt wurde (bis dahin, daß nachweislich bestimmte Darstellungen aus der Originalhöhle von der Wiedergabe in der « Caverne » ausgeschlossen wurden, weil sie angeblich nicht wichtig sind), sondern vor allem darum, weil es mir im Laufe der Jahre, in denen ich die Höhlenbilder (in den vorliegenden Reproduktionen) studieren konnte, immer deutlicher wurde, daß die Themen von Liebe und Zärtlichkeit und Miteinander-Sein im Universum dieser Steinzeitkunst vom Pont d’Arc von zentraler Bedeutung sind.

Das muß ins Gespräch gebracht werden – im Wissen darum, daß es angesichts des hier offenkundigen Niveaus künstlerischen Ausdrucks unangebracht ist, weiterhin von « primitiver Kultur » zu reden. Die Künstler der Aurignaczeit hatten dieselben Grundbedürfnisse nach Liebe und Lebensqualität, nach Zärtlichkeit und Verstandendenwerden wie wir – und kannten auch jene Hoffnung auf Frieden, die dazu ermutigt, auf ein Miteinander hinzuwirken, das menschenwürdiges Leben möglich macht.

Dieser Meditation aus dem Jahr 2015 wäre noch eine ganze Fülle von weiteren Beobachtungen (in derselben Richtung) anzufügen, die unterdessen möglich waren. Immerhin wurde es zu einer "Tradition", am St.Valentinstag eine "Themenführung" unter der Überschrift "Liebe in der Steinzeit" anzubieten. Und es ist darauf hinzuweisen, daß es im Frühjahr 2019 nach einer Übereinkunft mit den Entdeckern möglich geworden ist, die Nachbildung der Bilderhöhle vom Pont d'Arc nach einem ihrer Entdecker "CHAUVET 2" zu nennen. Diese Bezeichung wird in der Zukunft sicher allgemein gebräuchlich werden.