Pharisäer und Zöllner

Es hat sich so ergeben, daß ich eine Woche nach dem Reformationsfest in Lagorce den Reformationsgottesdienst in Glarus halten durfte - auf Deutsch. Da ich ein fauler Schlingel bin, habe ich die Predigt, die ich eine Woche zuvor in Lagorce gehalten habe, in Glarus auf Deutsch "wiederholt". Das französische "Original" finden Sie auf den französischen Seiten.

Predigt für Sonntag, den 4. November 2007 in der Stadtkirche Glarus Lesung :  2 Timotheus 4, 7 – 8. 17-18Evangelium: Lukas 18, 9 - 14Lieder: 557 (im Wechsel mit dem Chor) (1)-2-(3)-4 / 92, 1-2-3 / 530 (Im Wechsel mit dem Chor) (1)-2-(3)-6Die Epistel zum heutigen Reformationssonntag wirkt fast wie eine Lebensbilanz. Der Apostel sagt uns, was ihm für sein eigenes Leben wesentlich erscheint – damit wir unsererseits die Zeit, die uns geschenkt ist, nicht sinnlos vertun. Wir hören aus dem Ende des 2. Timotheusbriefes :

Es war ein guter Wettkampf, den ich bestanden habe. Nun ist mein Lauf beendet. Ich habe die Treue bewahrt. Nun wartet der Siegeskranz der Gerechtigkeit auf mich, den mir mein Herr als gerechter Richter an jenem Tage überreichen wird. Freilich nicht mir allein, sondern zugleich allen, die ihn bei seiner Wiederkunft in Liebe empfangen.
Der Herr hat mich dem Rachen des Löwen entrissen. Er wird mich aus allen bösen Machenschaften herausreißen und in sein ewiges Reich hinein retten. Ihm gebührt der Ruhm in alle Ewigkeit. Amen.

Das Evangelium, auf das wir heute miteinander hören wollen, ist ein Gleichnis Jesu, das ebenfalls darauf abzielt, daß wir das Leben, das Gott uns schenkt, nicht sinnlos vertun. Wir hören das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner aus Lukas 18, 9 bis 14

Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, das folgende Gleichnis:
Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner aber stand ferne, mochte nicht einmal die Augen aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.


Liebe Gemeinde,
    natürlich wissen Sie es so gut wie ich: Ein Gleichnis, das ist eine erfundene Geschichte. Das heißt: Die Geschichte, die erzählten Einzelheiten und die vorkommenden Personen sind vom Erzähler frei erfunden. Ob wir einen barmherzigen Samariter vor uns haben oder einen armen Lazarus, einen ungerechten Richter oder einen Pharisäer und einen Zöllner, immer haben wir es mit Gestalten und mit Geschichten zu tun, über die der Autor voll und ganz selber verfügt. Der Erzähler allein bestimmt, wer in seiner Geschichte auftritt und was er tut.
Und nun präsentiert uns Jesus ausgerechnet zum heutigen Reformationstag eine Geschichte, bei der man sich über die Wahl der Handlung, des Ortes und der Personen nur verwundern kann.
Sobald wir das Vorurteil aus Sonntagsschulzeiten einmal beiseitelassen, das besagt, alle Pharisäer wären in sich selbst verliebte Frömmler und Heuchler gewesen, kann uns dieses Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner nur zutiefst erschrecken. Denn die Pharisäer zur Zeit Jesu waren Menschen, die es in aller Regel sehr ernst meinten mit ihrem Glauben, mit ihrer Gesetzestreue, und mit ihrer heiligen Liebe zum ewigen Gott. Die haben sie sich wirklich etwas kosten lassen! Sie rangen um Einsicht in Gottes Gebote. Sie studierten und diskutierten unermüdlich die heiligen Schriften. Und wenn Jesus sich oft mit äußerster Schärfe gegen manche Pharisäer wandte, dann darf man nicht vergessen, daß er selber, nach allem, was wir heute sagen können, mit Sicherheit auch ein pharisäisches Studium absolviert hatte. Seine Schriftauslegung geschah ganz in der Linie pharisäischer Theologie, und sein radikales Verständnis von Gesetz und Propheten lag den Lehren der Pharisäer keineswegs fern. Es ist nicht von ungefähr, daß Nikodemus, der Mann, der in der Nacht zu Jesus kommt um von ihm zu lernen, eben Pharisäer und kein Sadduzäer war...
Und ich kann Ihnen ganz offen sagen, daß ich mir als Pfarrer oft nichts sehnlicher wünsche als möglichst viele Menschen in der Gemeinde zu haben, die mit solchem Ernst um ihren Glauben ringen, mit solchem Eifer und Ernst ihre Verbundenheit mit Gott Tat und Lebenspraxis werden lassen, wie das bei den Pharisäern die Regel war: Mit ihrem Glauben, der bis in den alltäglichsten Alltag ausstrahlte, mit ihrer Bemühung um persönliche Disziplin und Verfügbarkeit, mit ihrer Treue im Dienst und ihrer Bereitschaft, um Gottes Willen alle eigenen Interessen und Wünsche zurückzustellen, könnten sie uns allen große Vorbilder sein, und das ganz besonders am heutigen Reformationstag. Den feiern wir ja nicht, um uns an die großen Taten unserer Väter und Mütter im Glauben zu erinnern, sondern um unseren eigenen Glaubensernst zu prüfen, um unser eigenes Engagement kritisch zu bedenken, und um neu Anlauf zu nehmen zu einem Leben, in dem Gott an der ersten Stelle steht...

Sogar das Gebet des Pharisäers, das wir in unserem heutigen Gleichnis finden, spricht von einer Frömmigkeit, von der wir uns im Grunde einige Scheiben abschneiden könnten: Der Pharisäer rühmt ja nicht einfach seine eigenen Qualitäten, die ihn zu einem besseren Menschen machen. Nein, er dankt Gott für die Gnadenerweise, die ihm zugefallen sind. Er ist zutiefst dankbar dafür, daß Gott ihn auf den Weg des Glaubens und der Hingabe geführt hat. Er weiß all zu gut, daß wir alle – und natürlich auch er selber, permanent von ungezählten unguten Geistern bedrängt werden, die uns zum Egoismus verleiten wollen und zur Unwahrhaftigkeit. Geister, die tief uns uns selber hocken und uns in Versuchung führen. Unser guter Pharisäer weiß ganz genau, daß es nicht sein eigenes Verdienst ist, wenn sein Leben anders aussieht. Er hat Grund zu danken. Gott zu danken für die Gnade, daß er der Sünde auszuweichen vermag, daß Gott ihn vor allem Übel bewahrt. Und er bringt nun wirklich diese Dankbarkeit vor Gott!
Da haben wir nicht nur seine Theologie (die wir fast « reformiert » nennen könnten:) Eine gute Theologie auf der Grundlage des « Aus Gnaden allein », wir sehen auch, wenn wir genau hinschauen, seine saubere und demütige Frömmigkeit. Ein Mann, wie er Gott und den Menschen gefällt. Suchen Sie mal jemand, der aufrichtiger um seinen Glauben ringt. Der sich so hingebungsvoll engagiert. Der das Gesetz erfüllt, und er tut sogar noch mehr. Er kasteit sich. Er gibt den Zehnten, und nicht nur acht Prozent von seiner Lohnsteuer...
Ein Mann, der über jeden Zweifel erhaben ist. Jeder, der Jesu Worte hört, kann sich nur wünschen, daß Jesus ihn mit diesem Pharisäer auf eine Stufe stellt.
Bei dem Zöllner ist das anders. In Jesu Umwelt waren die Zöllner die Unmenschen in Menschengestalt. Männer, die ihre Volks- und Glaubensgenossen ausquetschten bis aufs Blut, und zwar als verlängerter Arm der allmächtigen Besatzungsmacht, der Römer. Mit Hilfe der verhaßten Fremden, der Gottesfeinde, wurden sie reich.
Zöllner, das waren nicht nur Charakterschweine, das waren menschliche Zecken! Du kannst Dich nicht gegen sie wehren, Du kannst sie nur übersehen, damit Dir nicht übel wird. Heute müßte man den Zöllner mit einem Drogenschieber vergleichen. Ein Mensch, dem es nichts ausmacht, sich auf dem Buckel anderer schamlos zu bereichern. Da können andere zugrunde gehen, er verdient daran. Ein Mensch, der die Schwäche der anderen ausnutzt, ein Typ, den man wirklich nur verachten kann.
Natürlich wissen die Hörer Jesu das. Was kann von einem solchen Kerl schon Gutes kommen? Und wenn er zum Tempel, zum Beten geht, was wird er Gott wohl präsentieren können außer seiner Schlechtigkeit? Wenn ihn wirklich das Gewissen drücken sollte: Um so besser. Geschieht ihm Recht. Er hat es nicht besser verdient.
Und tatsächlich, er traut sich nicht einmal, so zu beten, wie es damals bei den Juden üblich war. Das ist übrigens ein atemstockendes Detail: Die Juden beteten (bis zur Zerstörung des Tempels von Jerusalem) das Gesicht zum Himmel gewendet, die Hände weit ausgebreitet.
Und wir? Jawohl! Wir beten heute noch, ob uns das klar ist oder nicht, genau so wie dieser Zöllner damals: Den Kopf gesenkt, die Schultern eingefallen, hilflos, tief beschämt, weil wir ja wirklich nicht so sind, wie Gott uns haben will...
Und er sagt: « Gott, sei mir Sünder gnädig ».
Wer seine Bibel kennt, der weiß, unser Zöllner hat das nicht selbst erfunden. Er betet, wie der König David einst gebetet hat, als er tief in der Sünde steckte.
Wenn wir ihn so beten hören: « Gott, sei mir Sünder gnädig », dann können wir ihm natürlich nur zustimmen. Wirklich, was ist denn dieses Leben wert vor Gott?
Nun, immerhin: er hat es selbst erkannt. Er sieht es ein. Und weiß nur das eine: Was er braucht, was ihn zum Leben bringt, das ist allein göttliches Erbarmen.
Unser Zöllner gibt sich ganz und gar in Gottes Hand. Und zugleich weiß er: Vor Gott habe ich nichts vorzuweisen als meine Schuld, meine Bosheit, meinen Egoismus. Gott ist Gerechtigkeit. Und er kann gar nicht anders antworten auf mein Leben als mit Fluch und Strafe. Das treibt ihn ins Gebet.
Natürlich können wir das ganz anständig von ihm finden. Aber was ändert das an seinem Leben?
 Jesus sagt es uns. Und er sagt es so, daß es uns die Sprache verschlägt. So wie es sicher auch damals seine Hörer umgehauen hat. Er sagt: Der Zöllner ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.
Was heißt das, gerechtfertigt? Wer ist « gerecht »? Wer ist « gerechtfertigt »? Für die Hörer Jesu war völlig klar: Der Pharisäer war ein Gerechter. Gerecht vor Gott und vor den Menschen. Er war der Inbegriff eines Menschen, der Gott und den Menschen wohl gefällig ist. Sein Verhalten Gott und den Menschen gegenüber entsprach genau dem, was in der Bibel Gerechtigkeit heißt.
Und nun erklärt Jesus ganz im Gegenteil den Zöllner für gerecht, gerechtfertigt, vor dem andern. Wie ist das zu verstehen?
Natürlich kannten die Zuhörer Jesu die heiligen Schriften. Sie werden sich an den Psalm 51 erinnert haben. Dort wird mit genau den Worten des Zöllners gebetet: « Gott, sei mir Sünder gnädig ». Das ist Wort für Wort, was unser Zöllner sagt. Und es sind die Worte Davids, nach seinem Sündenfall mit Bathseba. Und dieses Gebet geschah doch... genau vor der Vergebung, die dem David zuteil wurde...
Richtig, Gott wird den nicht zurückweisen, der zu ihm kommt. Gott wird ihm vergeben. Damit aber stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen der Gnade Gottes – und seiner Gerechtigkeit. Und das Gleichnis vom Zöllner macht uns deutlich: Es gibt gar keinen Unterschied! In seiner unergründlichen Gnade weist Gott jedem und jeder seine Gerechtigkeit zu. Und schenkt ihm das Licht des Lebens.
Aber wir müssen nun natürlich bis zum logischen Ende weiter denken. Wenn der Pharisäer ins Unrecht gesetzt wird, dann ganz gewiß nicht wegen seines Gebets. Das eigentliche Problem liegt ganz woanders.
Und der Sünder, der wird keineswegs deshalb gerecht gesprochen, weil er so schön gebetet hat. Oder weil er Buße tut. Der Zöllner geht gerechtfertigt nach Hause – weil Gott der Gott der Liebe und des Erbarmens ist!
Ja, Gott ist Liebe. Und er liebt jedes einzelne Menschenkind. er liebt sogar den schlimmsten aller Sünder (und leidet zugleich an seiner Sünde!). Er liebt den Zöllner. Und er liebt den Drogenschieber. Und jeder bekommt immer wieder eine neue Chance, umzukehren, neu anzufangen. Man muß Gott nur nicht daran hindern!
Und das bedeutet allerdings: Gott wendet sich auch jedem von uns zu. Wir dürfen ihn nur nicht daran hindern!
Nun stellt sich allerdings die Frage: Warum wird der Mann, der in unserem Gleichnis als ein Muster von Frömmigkeit erscheint, warum wird der nicht AUCH gerecht gesprochen? Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden Menschen? Für mich liegt der entscheidende Unterschied darin, daß die beiden auf total entgegengesetzte Weise auf Gott schauen:
Der Pharisäer hat von Gott schon alles gekriegt, was er je erwarten kann. Er hat nichts mehr zu erwarten. - und genau da liegts !
Wie kann ein Mensch je auf den Gedanken kommen, jetzt wärs geschafft? Unser Pharisäer hält sich für vollkommen. Vermutlich merkt er es gar nicht, aber genau genommen hält er sich – für Gott. Das allerdings trennt ihn von Gott und von Gottes Gerechtigkeit. Und das trennt ihn auch von den anderen, von allen, denen er sich überlegen fühlt, die er verachtet.
Der Zöllner hingegen erwartet alles von Gott. Und so wird ihm die Gnade zuteil, auf die er hofft. Amen.

Ewiger, barmherziger Gott, auch wir wollen alles von dir erwarten.
Wehre uns, daß wir uns selbst für gerecht und recht und richtig halten.
Auch mit dem besten Willen der Welt, und sogar mit mustergültigen Verdiensten sind und bleiben wir doch, was wir sind. Arme Sünder.

Hindere, daß wir uns anderen überlegen fühlen, denen vielleicht, die niemals auch nur im geringsten guten Willen zeigen, oder denen, die ohne Glauben sind, oder ohne gute Werke.
Laß nicht zu, daß wir uns über die erheben, die es nicht schaffen, der Versuchung zu widerstehen, oder auch über die, die Freude daran haben, Unrecht zu tun, oder ihrem Eigennutz zu frönen.

Laß uns nie vergessen, Herr, daß du es bist, der die Herzen erforscht. Wir können immer nur die Oberfläche, das Äußerliche sehen.
Es ist ja wirklich so: Im Lichte deiner Wahrheit sind die Unterschiede gering.
Die Unterschiede zwischen ihren Übeltaten und unserem Mangel an Gelegenheit...

Schenke uns, Herr, deinen Blick der Liebe, durch den der Sünder frei wird dazu, zu seiner Sünde zu stehen. Und frei wird dazu, sich von seiner Bosheit abzukehren, um ganz aus dir zu leben.

Schenke uns deine Vergebung, damit wir es vermögen, nach deinem Wort und in deiner Spur die Sünder zu befreien: Ihnen Gewissenlasten abzunehmen, die sie zu erdrücken drohen. Daß wir sie wahrhaft « ent-schuldigen », damit sie diejenige Befreiung ganz konkret erleben, zu der du sie rufst.
Laß es geschehen, Herr, daß diese Befreiung, die herrliche Freiheit der Kinder Gottes Raum gewinnt unter uns. So können wir jetzt schon etwas erfahren von der Freude deines Reiches. So können wir deine Großmut, die Weite deines Herzens erahnen, die Unermeßlichkeit deines Erbarmens und die Tiefe deiner Liebe.