Hier eine Predigt zu Zachäus, dem Schlitzohr, Lukas 19

Predigt für den Sonntag den 4. November 2001 in Vallon

Text: Lukas 19, 1-10

  1. Zachäus
    Jesus kam nach Jericho und zog durch die Stadt hindurch.
  2. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus,
    der war ein Oberer unter den Zöllnern
    (von denen also, die von den Römern die Steuerpfründen pachteten)
    und er war sehr reich.
  3. Gerne hätte er Jesus gesehen, wer er wäre,
    aber er konnte es nicht, wegen der Volksmenge;
    denn er war klein von Gestalt.
  4. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum,
    um ihn zu sehen; denn dort mußte er durchkommen.
    Und als Jesus an die Stelle kam,
  5. schaute er zu ihm auf und sprach ihn an: Zachäus,
    steig eilends vom Baum herunter;
    denn ich muß heute in deinem Haus einkehren.
  6. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
  7. Als die Leute das sahen, murrten sie alle und sprachen:
    Ausgerechnet bei einem Sünder ist er eingekehrt.
  8. Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach:
    Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen,
    und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.
  9. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren,
    denn auch er ist doch ein Nachkomme Abrahams.
  10. Denn der Menschensohn ist gekommen,
    zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

 

 


Liebe Freunde,

"Heute ist diesem Haus Heil widerfahren": was das bedeutet, das illustriert die Zächäusgeschichte so herrlich klar und einfach, daß es im Grunde jedes Kind versteht.

Wir alle suchen ja im Grunde heimlich - oder unheimlich! - nach Heil, nach Lebensfülle und Sinn, darum wollen wir heute dieser Geschichte von Zachäus entlanggehen und zu erfassen versuchen, wie das Heil (Jesus hat hier sicher "Schalom" gesagt!) auch in unserem Leben Gestalt gewinnen kann.

Eines haben Sie sicher auf Anhieb gesehen: Nämlich, daß das Heil, das diesem Zachäus begegnet ist, in und mit Jesus zu ihm gekommen ist. Und das ist schon enorm wichtig. Nur Jesus, der Gottessohn, kann uns Lebensfülle und Lebenssinn schenken. Wir mögen ihn anderswo suchen, wir mögen alles mögliche probieren, wir mögen vielleicht sogar eine ganze Menge finden, Unterhaltung und Zerstreuung vielleicht, oder ein "volles Programm", vielleicht mögen wir sogar so erfolgreich sein wie der Zachäus, der es immerhin zu einem Leben im Reichtum gebracht hat - aber nicht einmal der Reichtum kann auf die Dauer das Herz zur Ruhe bringen, und das Leben mit Glück und Sinn erfüllen!

Die Erfahrung von Heil, von Schalom, von Ganzheit und Sinn machen wir vielmehr dort, wo Christi Wort und Auftrag, wo seine Kraft und seine Gegenwart bestimmend wird für unseren Alltag. Dort also, wo Christus unser Leben bestimmt und unsere Pläne durcheinanderbringt, weil wir begriffen haben, daß alles darauf ankommt, daß wir uns ganz und gar auf ihn ausrichten.

Davon erzählt Lukas in dieser Geschichte von Jesus, der auf dem Weg nach Jerusalem durch Jericho kommt und dort alles durcheinanderbringt. Wie ein Lauffeuer muß es durch die Gassen gegangen sein: Jesus, der Nazarener kommt hier durch! Den müßt ihr sehen, dem müßt ihr begegnet sein!

Das Heil, der Schalom Gottes kommt, aber er kommt nur zu denen, die sich aus ihrem engen Alltag herausholen lassen, wie sich die Leute von Jericho aus ihren engen Läden haben herausrufen lassen auf die Straße, um Jesus zu begegnen.

Du mußt das, was dir selber so unendlich wichtig ist, liegenlassen und Jesus entgegengehen. Das kann beispielsweise heißen: Du opferst deinen freien Nachmittag und gehst ins Altersheim, um deine alte Tante zu besuchen. Nicht wegen der Erbschaft, sondern um Gottes willen: Einfach, weil die alte Frau spüren soll, daß sie nicht vergessen ist, daß sie wer ist, daß sie geliebt wird...

Wer dann, wenn das Heil nahe kommt, Wichtigeres zu tun hat, wer keine Zeit hat, um Jesus entgegenzugehen, der wird das Heil verpassen!

Man muß den Kram des Alltags liegenlassen, man muß hingehen, man muß nach Jesus fragen, ihn suchen, auf ihn warten, man muß sich die Zeit nehmen, bei denen zu sein, die ihn erwarten, die ihm entgegengehen, die ihn gemeinsam begrüßen wollen.

Wer zu Hause bleibt, der wird es nicht erleben - auch wenn er vielleicht zuzeiten noch so fest an Jesus denken mag. Das Wort Christi trifft nur diejenigen, die ihr Schneckenhaus verlassen und zu ihm gehen, die ihm und anderen zeigen, daß sie ihn brauchen, daß sie von ihm etwas, nein, alles erwarten!

Das ist in dieser Geschichte ganz einfach zu erfassen. Aber dann wird's problematisch: Denn das Heil trifft hier in Jericho ausgerechnet einen, der das doch wirklich am wenigsten verdient hat: Den Zachäus, den Obergauner, den Oberzöllner. Den Mann, der über Leichen geht, den Mann, der "Dreck am Stecken" hat.

Sein Beruf, das Eintreiben der Besatzungssteuern, war ein ausgesprochen unappetitliches Geschäft. Nicht nur, weil es ihn notwendig mit den Feinden, mit den verhaßten Römern zusammenbrachte. Solch ein Umgang machte einen "unrein". Was ein rechter Israelit war, der ließ so was bleiben, der ließ sich auch um alles Geld der Welt nicht zu so einem Geschäft herbei. Denn schließlich verbietet das Gesetz Gottes nicht nur den Umgang mit den verhaßten Fremden, sondern außerdem verbietet es, sich an den Volksgenossen, an den Brüdern zu bereichern.

Und nun kommt Jesus ausgerechnet zu diesem Zachäus, zu diesem Schlitzohr. Dem begegnet das Heil. Der darf Jesus in sein Haus aufnehmen. Hätten das nicht andere in Jericho weit mehr verdient? Hätten nicht andere auch eine anständige Hütte gehabt, um Jesus zu empfangen? Und Platz genug, sogar für seine Jünger, seine Freunde?

Sage keiner, Jesus hätte das nicht gewußt: Wie unbeliebt der reiche Knopf gewesen sein muß, das sah hier jeder Blinde: Warum sonst muß der Dickwanst in seinen tollen Klamotten auf einen Baum klettern, wie ein Lausbub, um über die Leute hinweg zu sehen? Einer, der bei den Leuten was galt, der hätte keine Kletterpartie riskieren müssen, dem hätten sie doch sicher die erste Reihe angeboten!

Wenn Jesus wenigstens zuerst einmal ein Zeichen von Reue von dem Erzgauner gefordert hätte. Etwa so: "Hör mal, du! Es ist ja schon ganz eindrucksvoll, daß dich deine Neugier bis auf den Maulbeerbaum hinauf getrieben hat, nur damit du kleiner Zwockel mich aus der Ferne sehen kannst. Wenn du es richtig anstellst, dann kannst du sogar noch mehr erleben. Ich komm zu dir nach Haus, zum Abendessen, wenn du mal endlich deinen Geiz aufgibst, wenn du wieder herausrückst, was du den Leuten abgegaunert hast! Sei ein ordentlicher Mensch, dann kommt das Heil sogar zu dir!

Wenn Jesus so gesprochen hätte, dann hätten alle ihn verstanden. Dann hätte man gemerkt: Der weiß, was Anstand ist. Der verteilt keine Vorschußlorbeeren, der prüft die Leute, mit denen er zusammenkommt.

Das wäre die Art von Heil, die uns vertraut ist: Das gute Gewissen, das zum sanften Ruhekissen wird, die Rechtschaffenheit, die selbstbewußt auf ihre eigenen Verdienste schaut.

Aber das ist nicht gemeint, wenn Jesus Heil verkündigt.

Manch einer von uns weiß, daß diese Selbstgenügsamkeit der Ordentlichen, die zu Recht so stolz auf ihre reine Weste sind, die Menschen einsam macht und voneinander trennt.

Wer so von seiner eigenen einwandfreien Lebensführung eingenommen ist, der sieht (wenn er schon keine dunklen Flecken auf einer Weste sieht) die Splitter in den Augen seiner Nebenmenschen. Wenn man ihm nur Gelegenheit gibt, dann weiß er manches von den Unzulänglichkeiten der anderen zu berichten. Das macht - selbst wenn ich da manches von den anderen zu erzählen habe - unglaublich einsam!

Solches Pochen auf Moral - und auf die Unmoral der anderen - das trennt uns voneinander, das hindert uns am wahren Leben!

Darum fordert Jesus keine Vorleistung. Er sieht die Menschen, wie sie sind: Mit ihren Sehnsüchten und ihren Schwächen: In ihrer Sünde (das heißt, in ihrem Getrenntsein von Gott, aus dem alle Friedlosigkeit und Einsamkeit kommt, alle Unerfülltheit und innere Leere). Er sieht, daß da einer in ganz besonderer Weise seine Not zum Ausdruck bringt. Gewiß, viele stehen da am Weg und sind neu-gierig. Aber dieser eine da stieg ohne Rücksicht darauf, was die Leute denken oder sagen könnten, auf den Maulbeerbaum, um Jesus zu sehen. So groß ist seine Neugier, so stark ist seine innere Leere, daß er sogar die Gefahr in Kauf nimmt, sich lächerlich zu machen. Wer - um mit Jesus in Kontakt zu kommen - sich so sehr exponiert, der darf sicher sein, daß Jesus selber ihn bemerken wird. Und Jesus kommt zu ihm. Sogar wenn er weiß, daß er's im Grunde nicht verdient.

Jesus sieht den Menschen und seine Lebensnot auch hinter der glänzendsten Fassade. Er hört den inneren Aufschrei, der sich in der Kletterpartie des Zachäus offenbart. Und weil Jesus keinen wegstößt, der zu ihm kommt, weil er auftut, wenn einer bei ihm anklopft, darum geht Jesus auf Zachäus zu und lädt sich bei ihm ein.

Jesus nimmt sich Zeit für den, der nach ihm fragt, der seine Nähe sucht. Und Jesus geht ins Haus des Oberzöllners, obwohl das öffentliches Ärgernis erregen muß. Auch wenn die Welt es nicht begreifen kann: Das Heil, die Liebe Gottes begegnet denen, die darauf warten, denen, die sich darum bemühen - ob sie's verdienen oder nicht.

Vielleicht wären da in Jericho manche, die hätten ein Recht darauf, den hohen Gast in ihrem Hause zu empfangen. Aber bei Jesus zählt nicht das Verdienst, nicht die äußere Wohnanständigkeit. Bei Jesus zählt allein das Sehnen nach Erfüllung, das Suchen nach dem Heil, die Neugier, der wir bei Zachäus hier begegnet sind.

In der Sprache der Bibel heißt das: Er steht zu seiner Sünde.

Das Eingeständnis unserer Gottesferne, unserer Leere und Verlorenheit ist die einzige Voraussetzung dafür, daß das Heil, die Liebe Christi zu uns kommt.

Wenn wir auf die Geschichte von Zachäus schauen, dann wird deutlich: Die Sehnsucht nach Jesus, nach der Begegnung mit ihm, die führt zum Schalom, zum Heil.

Sagen Sie nicht: "Nur" das: Das ist unglaublich viel! Daß einer vor sich selber und vor den anderen eingesteht, daß er sich nicht selbst genügt, daß er den anderen braucht und darum die Gemeinschaft mit dem Gottessohn sucht, die Gemeinschaft der Gemeinde also; daß er mit dem, was in ihm bohrt, was ihn beschäftigt, Hilfe sucht und das Gespräch: Mit seiner Sorge um den Arbeitsplatz etwa oder um die Zukunft, mit seiner Angst vor dem Tod.

Christi Gegenwart und Liebe ist Angebot des Heils für den, der es nicht mehr alleine schafft, der seine Not bekennt und Hilfe sucht, weil er weiß, daß er sich selber nicht mehr helfen kann.

So kam Zachäus durch die Begegnung mit dem Herrn in Berührung mit der Welt des Glaubens. Ihm wurde plötzlich der Zugang zum Lebenssinn eröffnet. Und das hat sein Leben radikal verändert. Er blieb Oberzöllner, aber er blieb nicht das Schlitzohr, das er war. Plötzlich sah die Rangordnung der Werte in seinem Leben neu und anders aus. Er merkte, daß er mit den Menschen, die er kannte, wieder zu einem rechten Miteinander finden mußte. Darum gab er die Hälfte seines Vermögens plötzlich her, darum wollte er reinen Tisch machen mit denen, die er übers Ohr gehauen hatte.

Auch bei uns kann die Rangordnung der Werte durch die Begegnung mit dem Heil des Herrn ganz plötzlich anders werden. Da haben wir auf einmal Zeit für etwas, auch wenn es scheinbar nichts "bringt", wie man heute sagt (beispielsweise das Gebet, den Gottesdienst!), und da kann es auch geschehen, daß sich unsere Haltung im Blick aufs Haben, also auf Besitz und Geld verändert. Da können wir auf einmal, um mit Paulus zu sprechen "Haben als hätten wir nicht" und erleben so eine ungeahnte Freiheit uns selbst und unserem Alltag gegenüber.

Das kann geschehen. Allerdings: Wir wollen dem Geist der Freiheit alle Freiheit lassen. Auch die Freiheit dazu, uns seinen Weg zu führen, uns seine Freiheit zu eröffnen, daß wir wie Zachäus zu unserer Unerfülltheit, unserer Neu-Gier, unserer Gottesferne stehen können. Daß wir unsere Sünde eingestehen und dadurch den Weg zum Heil finden, den Weg zu Sinnerfüllung und Lebensfreude, die uns die Nähe Christi bringt, daß mit und durch seine Gnade, durch sein Heil unser Leben neu und reich und anders wird.

Amen.

Du bist die Liebe, o Gott -

und in deinem Sohn, unserem Heil,

bist du uns nahegekommen,

damit wir nicht in unseren Sehnsüchten,

in unserer inneren Leere zugrundegehen.

Wie Zachäus auf seinen Baum gestiegen ist,

so kommen wir zu dir im Gebet:

Wir schauen aus nach dir -

zusammen mit so vielen, die auf Erfüllung warten.

auf die Stillung ihrer Neugier,

auf die Befriedigung ihrer Gier nach dem Leben.

Wir bitten dich für alle,

die der Liebe und der Anerkennung bedürfen,

der Geborgenheit in der Gemeinschaft.

Ganz besonders bitten wir dich für die Männer.

Gib, daß sie über Arbeit und Existenzkampf

nicht selber zu Maschinen werden,

die nur noch funktionieren.

Gib, daß sie Menschen bleiben,

Menschen, die sich herausrufen lassen

aus der Enge ihres Daseins zur Begegnung mit dir.

Wir bitten dich für alle Menschen,

die sich alleingelassen und ausgeschlossen fühlen.

Für die Arbeitslosen und die Verantwortungsträger,

für die Flüchtlinge und die Asylbewerber,

für die Kinder und Jugendlichen, für die Invaliden und Alten.

Schenke ihnen Menschen, die für sie Zeit haben

und ihnen in deinem Namen Liebe und Verstehen entgegenbringen.

Wir bitten dich für die Politiker bei uns

und überall in der Welt.

Sie tun sich schwer damit,

ihre Interessen von denen der Allgemeinheit zu unterscheiden.

Laß sie spüren, daß sie nicht Herren sind, sondern Diener,

laß sie in deinem Namen wirken, in der Kraft des Friedens.

Und wir bitten dich für Israel, dein geliebtes Bundesvolk.

Stütze und segne du den so schwierigen Friedensprozeß

und laß wirklich Frieden werden in dem Land,

in das du zu allererst deinen Frieden,

dein Heil gebracht hast.